Luthers 97 Thesen

Artikel

Joshua J. Mark
von , übersetzt von Dominica Jakusewitsch
Veröffentlicht am 06 Dezember 2021
In anderen Sprachen verfügbar: Englisch, Französisch
Diesen Artikel anhören
X
Artikel drucken

Martin Luthers 95 Thesen, die als Auslöser der protestantischen Reformation in Europa gelten, sind zu einem Meilenstein geworden, seit er sie am 31. Oktober 1517 veröffentlichte. Doch die wenig bekannten 97 Thesen, die nur einen Monat zuvor veröffentlicht wurden, sind für die Entwicklung von Luthers (l. 1483–1546) Vision und Theologie ebenso bedeutsam.

Martin Luther Monument
Lutherdenkmal
Nick Morieson (CC BY)

Die 97 Thesen sind eine Reihe von Disputationen, die geschrieben wurden, um eine Streitfrage zum Thema der scholastischen Theologie zu stellen, und werden auch als Disputation gegen die scholastische Theologie bezeichnet. Die scholastische Theologie war die anerkannte Methode zur Deutung der Heiligen Schrift und zur Definition der Natur der Menschheit im Verhältnis zu Gott sowie der Eigenschaften des Göttlichen selbst.

Dieses theologische System geht auf Aristoteles (ca. 384–322 v. Chr.) zurück und wurde von dem Kirchenvater Thomas von Aquin (ca. 1225–1274) nach den Vorschriften und dem Beispiel des Heiligen Augustinus von Hippo (ca. 354–430) begründet. Aquins Übersetzung und Verwendung von Aristoteles inspirierte die scholastische Tradition in der mittelalterlichen Kirche, die noch zu Luthers Zeiten für die Ausbildung des Klerus von zentraler Bedeutung war.

Ablehnung der scholastischen Theologie


Obwohl sich Luther ursprünglich zu den Werken des Aristoteles und der großen mittelalterlichen scholastischen Theologen hingezogen fühlte, begann er zu spüren, dass sie die Dinge weit mehr verwirrten als klärten. Nachdem Luther zu der Überzeugung gelangt war, dass der Mensch allein durch den Glauben gerechtfertigt ist und nichts tun kann, um sich Gottes Gnade zu verdienen, lehnte er die Scholastik als Mittel zur Gotteserkenntnis ab und betonte die betende Lentüre der Bibel als direkten Weg zur Gemeinschaft mit dem Göttlichen.

DIE 97 THESEN STELLEN LUTHERS THEOLOGIE DAR, DIE DIE SCHOLASTISCHE TRADITION ALS KONTRAPRODUKTIV UND SOGAR UNBIBLISCH ABLEHNT.

In den 97 Thesen stellt Luther seine Theologie vor, die sich auf die Gebote der Heiligen Schrift allein und den Glauben allein als Mittel zur Erkenntnis des Willens Gottes stützt, während er die scholastische Tradition als kontraproduktiv und sogar unbiblisch ablehnt. Die Gelehrten, die er in seinen Argumenten anführt – Wilhelm von Ockham (ca. 1287–1347), Duns Scotus (ca. 1265–1308) und Gabriel Biel (ca. 1425–1495) – gehörten zu den angesehensten scholastischen Theologen ihrer Zeit, die die Lehre und die Vision der Kirche mitgestaltet hatten.

Die Werke von Aristoteles, die die Grundlage des theologischen Ansatzes der katholischen Kirche bildeten, wurden von der Kirche als wesentlich für die Entwicklung einer soliden, rationalen Theologie angesehen und waren Pflichtlektüre für jeden Geistlichen. Indem er sich mit den Werken dieser Männer auseinandersetzte, stellte Luther die Kirchenpolitik in Frage, aber seine sorgfältige Formulierung hielt seine Kritik innerhalb der Grenzen des Systems, gegen das er argumentierte.

Die Wissenschaftlerin Lyndal Roper vertritt die Meinung der meisten modernen Gelehrten, dass die 97 Thesen „in vielerlei Hinsicht radikaler und schockierender sind als die 95 Thesen“ (81), da letztere auf die kirchliche Politik des Ablasshandels und die Autorität des Papstes abzielten, während erstere einen Angriff auf das gesamte theologische System der Kirche einschließlich des Konzepts des freien Willens darstellen. Roper fährt fort:

Die Thesen sind eine außerordentlich
selbstbewusste Reihe von Sätzen, die so
geordnet sind, als würden sie aufeinander
folgen, aber ihre Reihenfolge ist ebenso
emotional wie logisch. Zügig bezeichnet
Luther eine seiner Aussagen nach der anderen
als „entgegen der allgemeinen Meinung“ oder
„im Gegensatz zu den Scholastikern“. Sie
fassen seine Ablehnung der gesamten Tradition
der mittelalterlichen Theologie in ihrer
ganzen leidenschaftlichen Wut zusammen, als
er folgert: „Niemand kann ein Theologe
werden, wenn er es nicht auch ohne Aristoteles
wird.“ (81)

Seine Ablehnung der aristotelischen Logik ist jedoch weder eine Ablehnung der Vernunft noch des rationalen Diskurses. Luther war einfach zu der Erkenntnis gelangt, dass man sich nicht auf die menschliche Vernunft verlassen kann, um das Göttliche zu begreifen. Seine Offenbarung beim Lesen der Zeile aus Römer 1,17 – „der Gerechte wird durch den Glauben leben“ – überzeugte ihn davon, dass Gott die Menschheit mit der Gnade ausgestattet hat, Gottes Willen zu erkennen, und dass kein von Menschen erdachtes System dies übertreffen kann.

Luther's Ninety-Five Theses Nailed to the Wittenberg Church's Door
Luther schlägt seine 95 Thesen an die Kirchentür von Wittenberg
Eikon Film and NFP Teleart (Copyright)

Die 97 Thesen

Die folgenden Ausführungen stammen aus Martin Luthers Grundlegenden Theologischen Schriften, herausgegeben von Timothy F. Lull und William R. Russell, S. 3–7. Sie werden unkommentiert wiedergegeben:

1. Zu sagen, Augustinus übertreibe, wenn er
gegen Häretiker spricht, bedeutet, dass
Augustinus fast überall lügt. Das widerspricht
dem allgemeinen Wissen.

2. Das ist gleichbedeutend damit,
Pelagianer und alle Häretiker triumphieren zu lassen, ja, es ist gleichbedeutend
damit, ihnen den Sieg zuzugestehen.

3. Es ist dasselbe, als würde man die
Autorität aller Doktoren der Theologie
verhöhnen.

4. Es ist also wahr, dass der Mensch als
schlechter Baum nur Böses wollen und tun kann
[vgl. Mt 7,17–18].

5. Es ist falsch zu behaupten, die Neigung des
Menschen sei frei, zwischen zwei Gegensätzen zu
wählen. In der Tat ist die Neigung nicht frei,
sondern gefangen. Dies wird im Gegensatz zur
allgemeinen Meinung gesagt.

6. Es ist falsch zu behaupten, dass der Wille
von Natur aus mit dem richtigen Gebot
übereinstimmen kann. Dies wird im Gegensatz
zu Scotus und Gabriel gesagt.

7. In der Tat bringt der Wille ohne die
Gnade Gottes eine Handlung hervor, die
verkehrt und böse ist.

8. Daraus folgt aber nicht, dass der Wille dem Wesen nach böse, d. h. grundsätzlich böse ist,
wie die Manichäer behaupten.

9. Er ist jedoch von Natur aus und
unvermeidlich böse und verdorben.

10. Man muss zugeben, dass der Wille nicht
frei ist, nach dem zu streben, was als gut
erklärt wird. Dies im Gegensatz zu Scotus und
Gabriel.

11. Er ist auch nicht in der Lage, zu wollen
oder nicht zu wollen, was vorgeschrieben ist.

12. Man widerspricht auch nicht dem heiligen
Augustinus, wenn man sagt, dass nichts so sehr
in der Macht des Willens steht wie der Wille
selbst.

13. Es ist absurd, daraus zu schließen, dass
der irrende Mensch die Kreatur über alles
lieben kann, also auch Gott. Dies im Gegensatz
zu Scotus und Gabriel.

14. Es ist auch nicht verwunderlich, dass der
Wille einem falschen und nicht einem richtigen
Gebot entsprechen kann.

15. Ja, es ist ihm eigen, daß er nur mit dem
falschen und nicht mit dem richtigen Gebot
übereinstimmen kann.

16. Man müsste vielmehr folgern: Da der
irrende Mensch das Geschöpf zu lieben vermag,
ist es ihm unmöglich, Gott zu lieben.

17. Der Mensch ist von Natur aus unfähig, zu
wollen, dass Gott Gott ist. Er will ja selbst
Gott sein und will nicht, dass Gott Gott ist.

18. Gott von Natur aus über alles zu lieben,
ist ein fiktiver Begriff, sozusagen eine
Schimäre. Dies steht im Widerspruch zur
allgemeinen Lehre.

19. Auch die Argumentation des Scotus über den
tapferen Bürger, der sein Land mehr liebt als
sich selbst, ist nicht anwendbar.

20. Ein Akt der Freundschaft geschieht nicht
nach der Natur, sondern nach der
vorbereitenden Gnade. Dies im Gegensatz zu
Gabriel.

21. Es gibt keine Handlung nach der Natur, die nicht
ein Akt der Konkupiszenz gegen Gott ist.

22. Jede Handlung der Konkupiszenz gegen Gott
ist böse und eine Unzucht des Geistes.

23. Es ist auch nicht wahr, daß eine Handlung
der Konkupiszenz durch die Tugend der Hoffnung
in Ordnung gebracht werden kann. Dies im
Gegensatz zu Gabriel.

24. Denn die Hoffnung steht nicht im Gegensatz
zur Nächstenliebe, die nur das sucht und
begehrt, was von Gott ist.

25. Die Hoffnung wächst nicht aus den
Verdiensten, sondern aus dem Leiden, das die
Verdienste vernichtet. Dies im Gegensatz zu
der Meinung von vielen.

26. Ein Akt der Freundschaft ist nicht das
vollkommenste Mittel, um das, was in einem ist,
zu erreichen. Sie ist auch nicht das
vollkommenste Mittel, um die Gnade Gottes zu
erlangen oder sich Gott zuzuwenden und zu
nähern.

27. Aber es ist ein Akt der Bekehrung, der
bereits vollendet ist und der Gnade folgt,
sowohl zeitlich als auch von Natur aus.

28. Wenn man von den Schriftstellen „Kehre zu
mir zurück, ... und ich werde zu dir
zurückkehren“ (Sacharja 1,3), „Nähere dich
Gott, und er wird sich dir nähern“
(Jakobus 4,8), „Suche und du wirst finden“
(Matthäus 7,7), „Du wirst mich suchen und
finden“ (Jeremia 29,13) und dergleichen sagt,
das eine sei von Natur aus, das andere aus
Gnade, so ist das nichts anderes als das,
was die Pelagianer gesagt haben.

29. Die beste und unfehlbare Vorbereitung zur
Gnade und die einzige Veranlagung zur Gnade
ist die ewige Erwählung und Vorbestimmung
Gottes.

30. Auf Seiten des Menschen aber geht der
Gnade nichts voraus als die Unlust und sogar
die Auflehnung gegen die Gnade.

31. Mit den müßigsten Begründungen wird
behauptet, daß die Prädestinierten einzeln
verdammt werden können, nicht aber kollektiv.
Dies im Gegensatz zu den Scholastikern.

32. Auch der folgende Satz bringt nichts:
Die Prädestination ist notwendig aufgrund der
Konsequenz des Willens Gottes, nicht aber
aufgrund dessen, was tatsächlich folgte,
nämlich, dass Gott eine bestimmte Person
erwählen musste.

33. Und das ist falsch, dass alles, was man
zu tun vermag, die Hindernisse der Gnade
beseitigen kann. Dies steht im Widerspruch
zu mehreren Autoritäten.

34. Kurzum, der Mensch hat von Natur aus weder
ein richtiges Gebot noch einen guten Willen.

35. Es ist nicht wahr, dass eine unbesiegbare
Unwissenheit einen völlig entschuldigt
(trotz aller Scholastiker);

36. Denn die Unwissenheit über Gott und sich
selbst und das gute Werk ist von Natur aus
immer unüberwindlich.

37. Die Natur rühmt sich im übrigen innerlich
und notwendigerweise und ist stolz auf jedes
Werk, das scheinbar und äußerlich gut ist.

38. Es gibt keine sittliche Tugend ohne Stolz
oder Kummer, das heißt ohne Sünde.

39. Wir sind nicht Herren unserer Handlungen,
vom Anfang bis zum Ende, sondern Diener.
Dies im Gegensatz zu den Philosophen.

40. Wir werden nicht rechtschaffen, indem wir
rechtschaffene Taten tun, sondern wir tun
rechtschaffene Taten, nachdem wir
rechtschaffen geworden sind. Dies im Gegensatz
zu den Philosophen.

41. Praktisch die gesamte Ethik des
Aristoteles ist der schlimmste Feind der
Gnade. Dies im Gegensatz zu den Scholastikern.

42. Es ist ein Irrtum zu behaupten, dass die
Aussage des Aristoteles über die
Glückseligkeit nicht im Widerspruch zur
katholischen Lehre steht. Dies steht im
Gegensatz zur Morallehre.

43. Es ist ein Irrtum zu sagen, dass man ohne
Aristoteles kein Theologe werden kann. Dies
steht im Gegensatz zur allgemeinen Meinung.

44. In der Tat kann niemand ein Theologe
werden, wenn er nicht ohne Aristoteles einer
wird.

45. Zu behaupten, dass ein Theologe, der kein
Logiker ist, ein monströser Ketzer ist – das
ist eine monströse und ketzerische Aussage.
Dies im Gegensatz zur allgemeinen Meinung.

46. Vergeblich modelliert man eine Logik des
Glaubens, eine Substitution, die ohne
Rücksicht auf Grenzen und Maß erfolgt. Dies
im Gegensatz zu den neuen Dialektikern.

47. Keine syllogistische Form ist gültig,
wenn sie auf göttliche Begriffe angewendet
wird. Dies im Gegensatz zu den Kardinälen.

48. Daraus folgt aber nicht, dass die
Wahrheit der Trinitätslehre den
syllogistischen Formen widerspricht. Dies im
Gegensatz zu denselben neuen Dialektikern und
zum Kardinal.

49. Wenn eine syllogistische Form der
Argumentation in göttlichen Angelegenheiten
gilt, dann ist die Trinitätslehre beweisbar
und nicht Gegenstand des Glaubens.

50. Kurz gesagt, der ganze Aristoteles ist
für die Theologie wie die Dunkelheit für das
Licht. Dies im Gegensatz zu den Scholastikern.

51. Es ist sehr zweifelhaft, ob die Lateiner
die richtige Bedeutung von Aristoteles
verstanden haben.

52. Es wäre für die Kirche besser gewesen,
wenn Porphyr mit seinen Universalien nicht
für den Gebrauch der Theologen geboren worden
wäre.

53. Selbst die nützlicheren Definitionen des
Aristoteles scheinen die Frage zu stellen.

54. Damit eine Handlung verdienstvoll ist,
ist entweder die Anwesenheit der Gnade
ausreichend, oder ihre Anwesenheit bedeutet
nichts. Dies im Gegensatz zu Gabriel.

55. Die Gnade Gottes ist niemals so anwesend,
dass sie untätig ist, sondern sie ist ein
lebendiger, aktiver und wirksamer Geist; es
kann auch nicht vorkommen, dass durch die
absolute Macht Gottes ein Akt der
Freundschaft ohne die Anwesenheit der Gnade
Gottes vorhanden ist. Dies im Gegensatz zu
Gabriel.

56. Es ist nicht wahr, dass Gott den Menschen
ohne seine rechtfertigende Gnade annehmen kann.
Dies im Gegensatz zu Ockham.

57. Es ist gefährlich zu sagen, dass das
Gesetz gebietet, dass eine Handlung, die das
Gebot befolgt, in der Gnade Gottes geschieht.
Dies im Gegensatz zum Kardinal und zu Gabriel.

58. Daraus würde folgen, dass „die Gnade
Gottes zu haben“ eigentlich eine neue
Forderung ist, die über das Gesetz hinausgeht.

59. Daraus würde auch folgen, dass die
Erfüllung des Gesetzes ohne die Gnade Gottes
erfolgen kann.

60. Ebenso folgt daraus, dass die Gnade Gottes
verhasster wäre als das Gesetz selbst.

61. Daraus folgt nicht, dass das Gesetz in
der Gnade Gottes befolgt und erfüllt werden
sollte. Dies im Gegensatz zu Gabriel.

62. Und dass deshalb derjenige, der außerhalb
der Gnade Gottes ist, unaufhörlich sündigt,
auch wenn er nicht tötet, nicht ehebrecht und
nicht zornig wird.

63. Daraus folgt aber, dass er sündigt, weil
er das Gesetz geistlich nicht erfüllt.

64. Geistig tötet er nicht, tut nichts Böses,
wird nicht zornig, wenn er nicht zornig wird
und nicht lüstern ist.

65. Außerhalb der Gnade Gottes ist es in der
Tat unmöglich, nicht zornig oder lüstern zu
werden, so dass es nicht einmal in der Gnade
möglich ist, das Gesetz vollkommen zu erfüllen.

66. Es ist die Gerechtigkeit des Heuchlers,
tatsächlich und nach außen hin nicht zu töten,
Böses zu tun usw.

67. Es ist durch die Gnade Gottes, dass man
nicht lüstern oder zornig wird.

68. Deshalb ist es unmöglich, das Gesetz in
irgendeiner Weise zu erfüllen ohne die Gnade
Gottes.

69. In der Tat ist es richtiger zu sagen,
dass das Gesetz ohne die Gnade Gottes von der
Natur zerstört wird.

70. Ein gutes Gesetz wird notwendigerweise
schlecht für den natürlichen Willen sein.

71. Gesetz und Wille sind zwei unversöhnliche
Feinde ohne die Gnade Gottes.

72. Was das Gesetz will, will der Wille
niemals, es sei denn, er gibt vor, es aus
Furcht oder Liebe zu wollen.

73. Das Gesetz, als Zuchtmeister des Willens,
wird nicht überwunden, außer durch das „Kind,
das uns geboren ist“ (Jesaja 9,6).

74. Das Gesetz macht die Sünde reichlich,
weil es den Willen reizt und abstößt
[Römer 7,13].

75. Die Gnade Gottes aber macht die
Gerechtigkeit reich durch Jesus Christus,
weil sie den Menschen dazu bringt, sich am
Gesetz zu freuen.

76. Jedes Tun des Gesetzes ohne die Gnade
Gottes erscheint äußerlich gut, aber
innerlich ist es Sünde. Dies im Gegensatz zu
den Scholastikern.

77. Ohne die Gnade Gottes ist der Wille
immer dem Gesetz des Herrn abgeneigt und die
Hände sind ihm zugeneigt.

78. Der Wille, der dem Gesetz ohne die Gnade
Gottes zugeneigt ist, ist um seines eigenen
Vorteils willen so geneigt.

79. Verurteilt sind alle, die die Werke des
Gesetzes tun.

80. Gesegnet sind alle, die die Werke der
Gnade Gottes tun.

81. Das Kapitel Falsas über die Buße,
Dist. 5, 10 bestätigt die Tatsache,
dass Werke außerhalb des Bereichs der Gnade
nicht gut sind, wenn dies nicht falsch
verstanden wird.

82. Nicht nur sind die religiösen Zeremonien
nicht das gute Gesetz und die Gebote, in
denen man nicht lebt (im Gegensatz zu vielen
Lehrern).

83. Aber auch der Dekalog selbst und alles,
was innerlich und äußerlich gelehrt und
vorgeschrieben werden kann, ist kein gutes
Gesetz.

84. Das gute Gesetz und das, in dem man
lebt, ist die Liebe Gottes, die der Heilige
Geist in unseren Herzen ausbreitet.

85. Der Wille eines jeden würde es vorziehen,
wenn es möglich wäre, dass es kein Gesetz
gäbe und er völlig frei wäre.

86. Der Wille eines jeden hasst es, dass ihm
das Gesetz auferlegt wird; wenn aber der
Wille die Auferlegung des Gesetzes wünscht,
so tut er es aus Liebe zu sich selbst.

87. Da das Gesetz gut ist, kann der Wille,
der ihm feindlich gesinnt ist, nicht gut sein.

88. Daraus ergibt sich, daß der natürliche
Wille eines jeden Menschen ungerecht und
schlecht ist.

89. Die Gnade als Vermittlerin ist notwendig,
um das Gesetz mit dem Willen zu versöhnen.

90. Die Gnade Gottes ist dazu da, den Willen
zu lenken, damit er nicht einmal in der Liebe
zu Gott irrt. Im Gegensatz zu Gabriel.

91. Sie wird nicht gegeben, damit die guten
Taten häufiger und leichter zustande kommen,
sondern weil ohne sie keine Liebestat
vollbracht wird. Im Gegensatz zu Gabriel.

92. Es kann nicht geleugnet werden, dass die
Liebe überflüssig ist, wenn der Mensch von
Natur aus fähig ist, einen Akt der
Freundschaft zu vollbringen. Im Gegensatz zu
Gabriel.

93. Es liegt eine Art von subtilem Übel in
dem Argument, dass eine Handlung zugleich
die Frucht und der Gebrauch der Frucht ist.
In Opposition zu Ockham, dem Kardinal und
Gabriel.

94. Dies gilt auch für die Aussage, dass die
Liebe zu Gott neben einer intensiven Liebe zum
Geschöpf bestehen kann.

95. Gott zu lieben heißt zugleich, sich
selbst zu hassen und nichts als Gott zu kennen.

96. Wir müssen unseren Willen in jeder
Hinsicht mit dem Willen Gottes in Einklang
bringen (im Gegensatz zum Kardinal).

97. So dass wir nicht nur wollen, was Gott
will, sondern auch wollen sollen, was Gott
will.

In diesen Aussagen wollten wir sagen und
glauben, nichts gesagt zu haben, was nicht in
Übereinstimmung mit der katholischen Kirche
und den Lehrern der Kirche ist.
[Jahr] 1517

Übersetzer

Dominica Jakusewitsch
Dominica ist eine Studentin mit polnischen und deutschen Wurzeln und studiert derzeit in England. Sie begeistert sich für Recht, Psychologie und Geschichte. Dominica ist besonders daran interessiert, soziale Bewegungen zu untersuchen und Geschichte für alle zugänglich und interessant zu machen.

Autor

Joshua J. Mark
Joshua J. Mark ist Mitbegründer der WHE und ehemaliger Professor am Marist College in New York, wo er Geschichte, Philosophie, Literatur und Schreiben unterrichtet hat. Er ist weitgereist und hat in Griechenland und Deutschland gelebt.

Dieses Werk Zitieren

APA Stil

Mark, J. J. (2021, Dezember 06). Luthers 97 Thesen [Luther's 97 Theses]. (D. Jakusewitsch, Übersetzer). World History Encyclopedia. Abgerufen auf https://www.worldhistory.org/trans/de/2-1897/luthers-97-thesen/

Chicago Stil

Mark, Joshua J.. "Luthers 97 Thesen." Übersetzt von Dominica Jakusewitsch. World History Encyclopedia. Letzte Dezember 06, 2021. https://www.worldhistory.org/trans/de/2-1897/luthers-97-thesen/.

MLA Stil

Mark, Joshua J.. "Luthers 97 Thesen." Übersetzt von Dominica Jakusewitsch. World History Encyclopedia. World History Encyclopedia, 06 Dez 2021. Internet. 22 Nov 2024.