Die Linearschrift B oder Linear B war das Schriftsystem der mykenischen Kultur im bronzezeitlichen Mittelmeerraum. Die Silbenschrift wurde von ca. 1500 bis ca. 1200 v. Chr. zum Schreiben des mykenischen Griechisch verwendet. Sie wurde 1952 von Michael Ventris entschlüsselt und ermöglichte damit unschätzbare Einblicke in die mykenische Kultur und ihre Interaktion mit anderen zeitgenössischen Mittelmeerkulturen.
Frühe ägäische Silbenschriften
Zwei bemerkenswerte Schriften waren in der bronzezeitlichen Ägäis bereits vor der Linearschrift B in Gebrauch. Dabei handelt es sich um die kretischen Hieroglyphen, die von etwa 2000 bis 1650 v. Chr. verwendet wurden, und die Linearschrift A, die von etwa 1850 bis 1450 v. Chr. in Gebrauch war. Beide Schriften wurden von der minoischen Kultur (ca. 2000 bis ca. 1450 v. Chr.) auf Kreta verwendet und verbreiteten sich auf andere Inseln wie Thera, Rhodos und die Kykladen. Keine dieser Schriften ist bisher entschlüsselt worden, aber wir wissen, dass sie für administrative und religiöse Zwecke verwendet wurden, meist als Inschriften auf Tontafeln. Während die kretische Hieroglyphenschrift allmählich in Vergessenheit geriet, war die Linearschrift A bis zum späten 16. vorchristlichen Jahrhundert in ganz Kreta in Gebrauch. Die Linearschrift A besteht aus mindestens 90 Zeichen, die sich in Silbenzeichen, Ideogramme und Symbole für Zahlen und Brüche gliedern lassen. Darüber hinaus wurden Monogramme aus der Zusammenstellung von zwei oder drei Symbolen gebildet. Etwa 70 % der Symbole der Linearschrift A tauchen in der Linearschrift B des mykenischen Griechenlands wieder auf. So wie die mykenische Kultur auf dem griechischen Festland ab der Mitte des 15. Jahrhunderts v. Chr. dominant war und sich Elemente der minoischen Kultur aneignete, so wurden auch Elemente der älteren minoischen Schrift in das mykenische Schriftsystem übernommen.
Die mykenische Kultur
Die mykenische Kultur (ca. 1700–1100 v. Chr.) erreichte ihren Höhepunkt zwischen dem 15. und 13. Jahrhundert v. Chr., als sie sich vom Peloponnes aus über Griechenland ausbreitete. Schließlich kontrollierten die Mykener ein Gebiet von Kreta bis zu den Kykladen. Die Mykener wurden durch Handelskontakt von den früheren Minoern beeinflusst, waren aber militaristischer und trieben noch weiter reichenden Handel mit Kulturen in der Levante und Ägypten. Abgesehen vom Handel sind die genauen politischen Beziehungen zwischen den über 100 mykenischen Zentren, die sich über ganz Griechenland verteilten, nicht klar. Es gab jedoch deutliche kulturelle Verbindungen, und eine davon war die Sprache und Schrift in Form der Linearschrift B. Wie die Minoer bauten auch die Mykener große palastähnliche Anlagen, die als Knotenpunkte für Handel und Verwaltung fungierten. In diesen großen Zentren finden wir fast alle Linear-B-Artefakte.
Merkmale und Entschlüsselung von Linear B
Linear B erscheint am häufigsten auf Tontafeln, die in der Regel rechteckig waren sowie klein genug, um in einer Hand gehalten zu werden, während der Schreiber mit der anderen Hand die Zeichen anbrachte. Eine alternative aber seltenere Form sind blattförmige Tafeln. Interessanterweise ist es nicht ungewöhnlich, Abdrücke der Finger oder Handflächen der Schreiber im Ton zu finden. Andere Quellen der Linearschrift B sind Bügelkannen, große Vorratsgefäße, als Siegel verwendete Tonstücke, Tonetiketten für Vorratsgefäße und gravierte Siegel, die andere nichtschriftliche Markierungen tragen. Die meisten Artefakte, insbesondere die Tontafeln, stammen aus dem 13. Jahrhundert v. Chr., aber es gibt auch Beispiele aus dem 14. Jahrhundert v. Chr. Letztere stammen größtenteils aus Knossos, wo die ersten Beispiele der Schrift bei den Ausgrabungen von Arthur Evans (1851–1941) im März 1900 entdeckt wurden.
Die Encyclopedia of Ancient History fasst Linear B wie folgt zusammen:
Die Schrift war syllabisch, mit phonetischen Zeichen, die einen Vokal oder einen Konsonanten plus Vokal darstellten: Die Stadt Amnisios wurde beispielsweise a-mi-ni-so geschrieben. Es gab auch Zeichen für Zahlen und piktografische Ideogramme, mit denen die Schreiber Dinge darstellen konnten, die sie zählen wollten. (4093)
Das Oxford Classical Dictionary fügt weitere Einzelheiten hinzu:
Die Schrift, die gleichmäßig von links nach rechts verläuft, setzt sich aus drei Arten von Zeichen zusammen. (1) Waren, einschließlich Menschen und Tiere, werden durch spezielle Zeichen, die Ideogramme oder Logogramme genannt werden, notiert, die ursprünglich bildhaft waren, sich aber oft zu unerkennbaren Mustern entwickelten. Diese stehen vor den Zahlen, um zu zeigen, was gezählt wird. Es gibt Zeichen dieser Klasse, um die kleineren Bruchteile von größeren Volumen- und Gewichtseinheiten zu beschreiben. (2) Die Zahlzeichen sind dezimal aufgebaut, wobei die Zeichen für 1, 10, 100, 1.000 und 10.000 bis zu neunmal wiederholt werden. (3) Die Silbenzeichen (weniger als 90), die in der Regel einen Konsonanten gefolgt von einem Vokal bezeichnen, werden zur Schreibung von Namen und Vokabeln verwendet. Es gibt Zeichen für die fünf Vokale, aber die Länge wird nicht angegeben. Es gibt auch eine kleine Anzahl von Zeichen mit dem Wert: Konsonant+Halbvokal+Vokal... Wörter werden geteilt, aber einsilbige Wörter werden als Teil des folgenden oder vorangehenden Wortes behandelt. (1206)
Eine der Schwierigkeiten bei der Entzifferung der Linearschrift B war die relative Knappheit an Beispieltexten. Selbst an der großen Stätte von Mykene wurden nur etwa 70 Tontafeln mit Linearschrift B ausgegraben. Das liegt daran, dass die Tontafeln nur als kurzfristige Aufzeichnungen gedacht waren, und die heute noch erhaltenen sind diejenigen, die in zufälligen Bränden hart gebrannt wurden. Glücklicherweise gibt es neben den Tonfunden noch Tausende von anderen Artefakten mit dieser Schrift aus Mykene. Artefakte mit gemalter Schrift und Tafeln wurden an anderen mykenischen Stätten wie Pylos (dem wichtigsten Fundort von Linear-B-Tafeln), Theben, Tiryns, Chania, Agios Vasilios und Midea gefunden. Es ist merkwürdig, dass nur sehr wenige Artefakte mit dieser Schrift in kleineren Siedlungen gefunden wurden (was bei Linear A nicht der Fall ist). Infolge der laufenden Ausgrabungen in ganz Griechenland verfügen die Archäologen heute über mehr als 5.000 Beispiele der Linearschrift B allein in Ton.
Trotz der Schwierigkeiten, die sich aus der begrenzten Verwendung für Verwaltungszwecke und den relativ kurzen Textabschnitten ergeben, wurde die Linearschrift B 1952 von dem Architekten Michael Ventris (1922–1956) entschlüsselt, der seine Forschungsergebnisse in Zusammenarbeit mit John Chadwick veröffentlichte. Plötzlich hatten die Wissenschaftler Zugang zur Sprache der bronzezeitlichen Griechen und konnten ihr Wissen um fünf Jahrhunderte erweitern. Allerdings gibt es eine Einschränkung: „Linear B ist nicht geeignet, die griechische Sprache zufriedenstellend wiederzugeben, und folglich kann jede Zeichengruppe, d. h. jedes Wort, auf verschiedene Weise gelesen werden“ (Alexiou, 130). Diese Tatsache und der abstrakte Charakter vieler Zeichen der Linearschrift B bedeuten, dass die volle Bedeutung eines Textes bei Historikern manchmal umstritten ist.
Verwendungszwecke der Linearschrift B
Linear B wurde in erster Linie für Aufzeichnungen verwendet, und so gibt es Tontafeln, auf denen Lebensmittel (z. B. Getreide, Feigen, Oliven, Olivenöl und Wein), Vieh (z. B. Schafe, Rinder, Ziegen und Schweine), Waffen (Pfeile, Speere und Schwerter), Möbel, Streitwagen und Rohstoffe wie Wolle, Holz, Metalle und Elfenbein aufgelistet sind. Einige Aufzeichnungen gehen über bloße Listen hinaus und vermerken die Verteilung von Rohstoffen an Produktionszentren, Landzuteilungen, Warenlieferungen, die Ausgabe von Waffen, Einberufungen von Kriegern und Ruderern und die Verteilung von Kriegern an bestimmte Orte.
Obwohl die Linearschrift B in erster Linie für Verwaltungs- und Wirtschaftszwecke verwendet wurde, gibt sie uns einen, wenn auch indirekten, Einblick in andere Aspekte der mykenischen Kultur. Die Linear-B-Tafeln selbst sind ein Beweis dafür, dass die weitläufigen Palastkomplexe des mykenischen Griechenlands große umliegende Gebiete auf gewisse Weise kontrollierten, nicht nur durch Handel und die Anhäufung von Waren, sondern auch durch die Koordinierung von Arbeit. Dank der Entzifferung der Linearschrift B wissen wir, dass es in der mykenischen Gesellschaft Herrscher, Beamte, Priester, vom Palast abhängige Personen, Handwerker und Handwerkerinnen, Krieger, Hirten, Wehrpflichtige sowie Sklaven und Sklavinnen gab. Der große Bestand an Linear-B-Tafeln in Pylos hat es Archäologen ermöglicht, festzustellen, dass „nur einige Dutzend Schreiberhände identifiziert wurden, und es ist klar, dass die Lese- und Schreibfähigkeit auf ein kleines Segment der Bevölkerung beschränkt war“ (Cline, 682).
Aus den Tafeln wissen wir, dass die mykenischen Paläste spezifische Produktionszweige wie die Herstellung von Textilien, Bronzewaffen und -werkzeugen, Rüstungen, Töpferwaren, Streitwagen, Glas und Parfüm kontrollierten. Seltsamerweise gibt es nur sehr wenige Schriftnachweise in Linear B, die sich auf den Export dieser Waren beziehen, was aus anderen archäologischen Quellen bekannt ist. Die Linearschrift B ermöglichte es den Mykenern eindeutig, ihre Produktivität so weit zu steigern, dass sie zu den wichtigsten Händlern im antiken Mittelmeerraum wurden. Die häufigen Hinweise auf die Herstellung von Rüstungen, Streitwagen und Waffen sowie die Erwähnung der Verteilung von Kriegern und Ruderern in gefährdeten Küstengebieten auf den Tafeln der Linearschrift B (fast 50 %) zeigen, dass die Mykener in der Lage waren, sich gegen rivalisierende Zivilisationen energisch zu verteidigen.
Ein weiterer Bereich, in dem die Linearschrift B Aufschluss gibt, ist die mykenische Religion. Wir wissen, dass Götter mit Banketten und Opfergaben in Schreinen und Heiligtümern geehrt wurden. Die olympischen Götter, die wir mit der späteren griechischen Kultur in Verbindung bringen, wie Zeus, Poseidon, Hera, Athene, Artemis, Ares, Hermes und Dionysos, erscheinen alle in mykenischen Aufzeichnungen. Interessanterweise gibt es auch Gottheiten, die es nicht in die Religion des archaischen und klassischen Griechenlands geschafft haben. Zum Beispiel verehrten die Mykener weibliche Versionen von Zeus und Poseidon, die Diwia bzw. Poseidaeia genannt wurden. Auf den Tafeln sind die Gaben verzeichnet, die den Göttern bei religiösen Ritualen geopfert wurden, darunter Getreide, Honig, Gewürze, Textilien und parfümiertes Öl. Auf anderen Tafeln sind Waren aufgeführt, die während der Festtage zum Verzehr gesammelt wurden, darunter Fleisch, Wein und Käse. Linear B hat auch gezeigt, dass die Mykener einen religiösen Kalender mit bestimmten Festen im Jahresverlauf hatten. Schließlich zeigen die Tafeln, dass die mykenische Priesterschaft, die sowohl Männer als auch Frauen umfasste, eine klare Hierarchie hatte.
Mykenischer Niedergang
Die Gründe für den Niedergang der mykenischen Kultur, der schrittweise von ca. 1230 v. Chr. bis ca. 1100 v. Chr. erfolgte, sind umstritten. Fest steht, dass zwischen 1250 und 1200 v. Chr. mehrere Stätten zerstört wurden, als das Palastsystem in Verfall geriet. Nicht alle Stätten wurden zerstört, aber um 1100 v. Chr. waren die meisten mykenischen Stätten zu bloßen Dörfern geschrumpft. Kriege mit eindringenden Seevölkern, Naturkatastrophen, Überbevölkerung, innere Unruhen und Klimaveränderungen könnten zum Untergang der mykenischen Zivilisation und damit zum Verschwinden der Schrift Linear B beigetragen haben. Es gibt keine Verbindung zwischen der Linearschrift B und dem griechischen Alphabet, das die archaischen Griechen von den Phöniziern entliehen, obwohl die mykenische Sprache als ein Dialekt der späteren griechischen Sprache angesehen wird, mit besonderen Ähnlichkeiten zum klassischen Arkadischen und Kyprischen.